Mittwoch, 21. November 2012

Beim Schamanen

Auf der Suche nach einer Indioapotheke haben wir die bunten Märkte der lauten Hauptstadt durchstöbert. Im Herzen eines bazarartigen Handelsplatzes angekommen, brauchten wir nur mehr den herben Düften folgen, die durch die engen Gassen strömen, und bald standen wir vor unserem Ziel, umschmeichelt von Lavendel, Rosmarin, Thymian und Minze. Mein Olfactorius vibrierte aufgeregt. Im offenen Laden reihen sich dicht an dicht die zu groben Büscheln gebundenen getrockneten Kräuter, von der niederen Decke und den hölzernen Wänden baumelnd. Der breite Ladentisch trägt schwer unter der Last von vielen unbekannten und einigen uns bekannten Schätzen aus der Natur: Artemisia, Eucalyptusblättern, Fenchel. Tiefe, geflochtene  Körbe umklammern graubraune, unansehnliche Wurzeln, Rinden des Bitterholzes, warzige Ingwerknollen; kleine Flaschen mit dem braunen Pulver der Katzenkralle, der uña de gato, dem bekannten Mittel gegen rheumatische Beschwerden, zwängen sich dazwischen.

Ein quirliger, älterer Herr, gertenschlank mit schulterlangem, grauem Haar stand plötzlich hinter mir, er hatte zweifelsfrei meine Gedanken erraten: Ob es in dieser herbaren Schatzkammer auch etwas für mich gäbe? Es war Geronimo, der Schamane, der uns herzlich empfing und einen neugierigen Blick in sein geheimnisvolles Reich werfen ließ. Leichtfüßig wie ein tanzender Derwisch umkreiste er uns Verblüffte, dabei tastete er uns mit seinen wachen Augen ab, mit Sicherheit seine Art des Diagnostizierens.

So als läge mein Krankenbefund vor ihm, langte er gezielt nach einem Säckchen Blätter, einem angeblichen Wundermittel bei rheumatischen Muskelschmerzen. Meinem Angetrauten konstatierte er in Sekundenschnelle Kreislaufschwäche, für mich nicht besonders verwunderlich, standen diesem doch Schweißperlen im Gesicht und auf den kalten Unterarmen und das bei Temperaturen um die zwanzig Grad. Nur, woran erkannte der kundige Mann das ständige Kribbeln an den Unterarmen meines Begleiters?

Reich bepackt mit verheißungsvollen Kräutermischungen, eingewickelt in Zeitungspapier, verließen wir, mit vielen guten Ratschlägen und handgeschriebenen Rezepten versorgt, den duftenden Laden. Die sinnlichen Gerüche haben wir mitgenommen, ebenso die Erinnerung an einen ungewöhnlichen Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, inmitten einer tosenden, lärmenden Stadt.

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(Alle Rechte liegen bei der Autorin)



 

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